Nachruf

UteSigrist

 

Ute Sigrist – Klasse Lehrerin

19.03.1936 – 17.02.2014

Als Frühchen in Mannheim geboren. Die Bombennächte in Mannheim übersteht sie, ohne daß ihre Eltern ihr die Brände rund um den Wasserturm erklären. Der Vater war neben seiner Lehrertätigkeit für die NSDAP als Fotograf tätig. Deswegen durfte er nach dem Krieg seinen Dienst vorübergehend nicht mehr ausüben. Ute Sigrist erhält Unterricht in beschädigten Schulen in Mannheim. Ihre Mutter verhindert den Übergang zum Konservatorium, wo ihr Klavierlehrer, der bekannte Pianist Vogel sie unterrichtet hatte. Wegen der Versetzung ihres Vaters nach Walldürn besucht sie das Gymnasium Buchen (Abitur 1955, Physik 1, Mathe 2, Deutsch 1). Studium der Germanistik in Würzburg, wo sie von ihrem Professor sehr früh das Promotionsangebot erhält – die Eltern blockieren die Chance. Anschließend Studium in Tübingen, wo von Freytag Löringhoff , Professor für Logik, ihr die Promotion anbietet – wieder blockiert von den Eltern. Danach Studium in Heidelberg,
1958/59 Studium an der Sorbonne
1960 Staatsexamen in Germanistik, Französisch, Geschichte und Sozialkunde
1962 Assessorexamen in diesen Fächern in Heidelberg
1960 Heirat Christian Sigrist
1961 Geburt ihres Sohnes
1962 Assessorin in Mannheim, Heidelberg und Freiburg an Handels- und Gewerbeschulen / Technisches Gymnasium
seit 1971 als Oberstudienrätin am Gymnasium Wolbeck tätig, Schwerpunkt ihrer Lehrtätigkeit wird wegen besonderer Kompetenz Französisch. Mitarbeit am Kollegschulprojekt NRW. Perfekte Aufführung von Beckett und Jonesco mit ihrem Französisch-Leistungskurs. Mehrere bundesweite Preise für von ihr unterrichtete Klassen. Französisch Kurse an der VHS Münster
1977 Prüfung in Sozialwissenschaften. Zahlreiche Austauschbeziehungen mit französischen lycées, 1992 mit PH Rjasan, anspruchsvolle Klassenexcursionen
2000 Pensionierung, obwohl sie aufgrund von Schülerbitten bereit war, bis 2001 weiterzuarbeiten.
seit 2000 Arbeit am geplanten Buch über Lehrerangst und Lehrerversagen

Unveröffentlicht:
I.) Germanistische Staatsexamens-Hausarbeit: Mittelalterliche Poetik und Literaturästhetik 1960
II.) Die Behandlung von Kleists „Michael Kohlhaas“ im Deutschunterricht der Obersekunda. Pädagogische Arbeit 1962 im Rahmen des Assessorexamens.

Musik als Beruf blieb Ute Sigrist versagt, also bildete sie sich bei Professoren von Musikhochschulen weiter fort und spielte in Freiburg und Münster mit Kollegen (meist Geigern und Klarinettisten) in der Zeit, die ihr die Schule noch ließ. Mit Klavierspielen konnte sie auch die drohende Handarthrose abwenden. Ihr Repertoire reichte von Bach bis Skrjabin; zögerlich ließ sie sich auf Jazz ein, den ihre ersten Lehrer verpönt hatten; das Gleiche gilt für Improvisationen. Sie spielte vom Blatt mit großer Genauigkeit. Bei Beethoven-Sonaten blieben Passanten vor dem Haus stehen und die Vögel fingen abends wieder an zu singen. Ihr letzter Lehrer und Partner war der Pianist Dieter Feldkamp. Tagsüber sang sie bis 2004 mit Vorliebe Schubert-Lieder. Noch 5 Wochen vor ihrem Tod spielte sie Mozart-Sonaten. In Musik im weitesten Sinne äußerte sich ihre Lebensbejahung und provokante Fröhlichkeit; bräsige Direktoren und Kollegen lachte sie lauthals aus. Mit ihrer „Glockenstimme“ konnte sie sich auch ohne technische Verstärker in der Schule durchsetzen.

Trotz ihrer allgemeinen Beliebtheit gab es Pressionen aus Teilen der Elternschaft; moniert wurde das Übermaß an Faschismus-Themen; die Bevorzugung Brechtscher Werke. Das ging bis zur Aufforderung durch den Direktor, sich für den Staat und damit für die Scheidung von ihrem als Kritiker des Polizei- und Justizapparats verschrieenen Ehemann zu entscheiden. Ihre Beherztheit schirmte dessen Tätigkeit im internationalen Komitee gegen die Isolationshaft finanziell ab.

Obwohl sie politische Provokationen vermied, bekam sie die Folgen „observierender Fahndung“ zu spüren bis hin zum „Geleit“ durch Polizeifahrzeuge bis zur Haustür, nächtlichen Telefonbeschimpfungen etc. Nicht zuletzt hatte sie die Verfahrenskosten mitzutragen.

„Klasse“ – bezeichnet ihre herausragende didaktische Kompetenz – nie hatte sie die verbreitete Angst ihrer (männlichen) Kollegen vor „schwierigen“ Klassen.
„Klasse“ weist auch auf ihr Engagement für alle lernbereiten SchülerInnen, kranke Schüler besuchte sie auch in der Psychiatrie und in anderen Kliniken, sie schützte sie vor Kollegen-Willkür. Ihr besonderes Engagement galt proletarischen Kindern aber auch anderen aus „bildungsfernen“ Schichten. Ihr politisches Engagement galt in Freiburg der SPD, in Münster wurde sie Mitglied der GAL, Austritt wegen deren Kriegspolitik auf dem Balkan und in Afghanistan, mit Rücksicht auf RA Achelpöhler hinausgeschoben. Seit 1972 Mitglied der GEW und des DGB-Chors Münster.

Ihre Traumatisierung durch die Bombennächte liegt ihrem friedenspolitischen Engagement zugrunde. Ihre Tätigkeit in der Amilcar Cabral Gesellschaft als Gründungsmitglied und zeitweilige 1. Vorsitzende sah sie als wichtige Ergänzung der antiimperialistischen Protestbewegung durch die konstruktive Unterstützung von Wiederaufbauprogrammen in postkolonialen Ländern. Ihre Solidarität mit der „dritten Welt“ konkretisierte sie in ihrer Unterstützung der besonderen Förderung von Studenten aus post- und halbkolonialen Staaten.
In unserem Haus wohnte während dreier Jahre nicht nur ein afghanischer Student, der die afghanischen Studenten, die in Opposition zum königlichen Regime in Kabul standen mobilisierte. Ute organisierte z. B. ein Neujahrsfest für afghanische Studenten.

In einem weiteren Rahmen spielte sie eine wichtige Rolle bei der Organisation der Doktoranden-Colloquien (Haus- und Gartensymposien).

Der Vorhang zu und viele Fragen offen

2008 begann die Krebskatastrophe ihr Leben zu überschatten. Auf Drängen von Christian Sigrist wurde ein in der Allgemeinpraxis übersehenes Nierenzellkarzinom verspätet entdeckt und umgehend eine Niere resektiert. Durch weitere Fehler wurden die Metastasen verspätet entdeckt. Die Schwere der operativen Eingriffe verschärfte sich seit 2010.

Ute Sigrist wollte nicht sterben; sie hat bis zu ihrem Tod versucht, sich nicht zum Objekt demütigender Pflege machen zu lassen. Erst ganz kurz vor dem schmerzlosen Ende gestand sie ihre Angst vor der „ewigen Dunkelheit“.

Zu klären bleibt die Frage nach der Ursache ihrer Krebserkrankung, einer Nichtraucherin ohne genetische Belastung und durch Reitsport gut trainiert. Kann die Risikoarchitektur der „Rostlaube“, wie ihr Wolbecker Schulzentrum genannt wurde, die Krankheit angelegt haben? Welche Rolle spielten Asbest und Eternit? Gab es offensichtliche Fehler bei der Sanierung der Schule bei fortlaufendem Unterricht?

Aufklärung von schwerwiegenden Fehlentscheidungen im öffentlichen Bauwesen findet in Münster nicht statt; über Sanierung von Schulen und den wegen PCB Belastung unvermeidlichen Abriss der OFD, deren Bau Millionen verschlungen hatte, wird berichtet, aber nicht öffentlich diskutiert. Die Stadt Münster hat bisher nur mit Ausflüchten und unvollständigen Angaben auf Anfragen bezüglich des Schulzentrums Wolbeck reagiert.

Wir konstatieren eine Spreizung im Krebssektor:
Auch in Münster gibt es Koryphäen in der onkologischen Chirurgie, aber die Nachsorge leidet unter Personalmangel in den Kliniken. Garantie für Heilung wird nicht gegeben. „Behandlung“ ist eine Serie von Experimenten und schlimmen Qualen. Daran schließt sich die Unzulänglichkeit der Palliativstation. Arztvisite: „Sie müssen sich darauf einstellen, daß Sie sterben werden“.

Am 1.3. wurde Ute Sigrists Asche in der „Urnenwahlgrabstätte 1. Reihe“ auf dem Bergfriedhof in Heidelberg beigesetzt.

Ute bei der Aufstellung der Paul Wulf Skulptur

Ute im Jahr 2010 bei der Aufstellung der Paul Wulf Skulptur